Mir scheint: In Vechta gibt es einen Willen zur Großstadt. Wer sich der Stadt von Süden her mit dem Auto nähert, den empfängt sie auf einem Boulevard, der so breit ist, dass man sofort das Gefühl hat, er leite etwas Großes ein. An seinem Rand stehen große Autohäuser, die Autos darin sind selbst groß. Riesige Werbeplakate und Schnellrestaurants, in deren Fenstern blinkende LED-Leuchtkästen den Autofahrern und Passanten „OPEN“ zurufen, sind die zuverlässigen Boten des Übergangs von der Vor- zur Innenstadt.
Die Universität ist zweigeteilt, eine Brücke muss ihre Einheit sichern. Als wäre die Straße, über die sie führt, eine gefährliche Stadtautobahn, die die beiden Gebäudekomplexe auseinanderreißt und auf normalem Wege für Fußgänger unüberwindlich ist.
Wer mit dem Zug kommt, auf den wartet keine Brücke. Will er vom Bahnhof in die Innenstadt gelangen, muss er zunächst einen breiten Stadtring überqueren. Stadtringe werden angelegt, um den gewaltigen Transitverkehr, der das Zentrum nur unnötig belasten würde, draußenzuhalten. Und mit ihm Lärm und Feinstaub. Sie leiten das hohe innerstädtische Verkehrsaufkommen um, ordnen es und geben dem Chaos der Großstadt ein wenig Vernunft.
Vermutlich hat man den Ring im Geist der „autogerechten Stadt“ gebaut, ein Ideal, das bis heute nachzuwirken scheint, etwa in der Begründung für die fehlende Fußgängerzone: „Städte in der Größenordnung Vechtas machen es sich oft genug allzu schwer: Entweder haben sie sich vor 30 Jahren zu stromlinienförmigen Fußgängerzonen hinreißen lassen oder mit Einkaufszentren auf der grünen Wiese ihre Innenstadt zersiedelt. Vechta macht da deutlich mehr Spaß: Im Herzen der City gibt es nach wie vor die »Große Straße«, die zwar verkehrsruhiger, aber eben nicht komplett für den Verkehr gesperrt ist. Hier pulsiert das Leben, hier sind die interessanten Geschäfte“1
Vor einigen Monaten stieß ich bei Joachim Lottmann auf etwas ganz Ähnliches. In „Endlich Kokain“ hält Stephan Braum eine Eloge auf die Mariahilfer Straße in Wien: „Diese Straße ist die längste und abwechslungsreichste Einkaufsstraße der Welt – und trotzdem keine Fußgängerzone. Junge Leute laufen da herum und keine Rentner, die Angst vor Autos haben. […] Es gibt ein Links und ein Rechts, dazwischen eine Fahrbahn, und jedes Teilchen hat eine Richtung. […] Hier war nach Aufschwung, Wirtschaftswunder, Lebensfreude. […] Autos parken dicht an dicht auf beiden Seiten des schmalen, aber regen Verkehrsflusses. Dieser Verkehr war es, der der Straße Dynamik, Ziel und Sinn gab. Keine unentschlossenen Fußgänger standen herum und fraßen irgendetwas in sich hinein wie in den Fußgängerzonen in Paderborn, Karlsruhe, Hagen, Hamm, Gladbeck und tausend anderen erlahmten Städten. Die Fußgängerzone markiert den Übergang von der Industrie- zur Freizeitgesellschaft. Bestimmt ist Wien die einzige Stadt Europas, die noch ein dynamisches Zentrum hat.“2 Stephan Braum kennt Vechta nicht.
2 Lottmann, Joachim (2014): Endlich Kokain, Köln, S. 140 f.