Vor Vechta war mein Leben Osna. Und Osna, das war ein kalter, zugiger Ort, bevölkert von Myriaden pausbäckiger Fußballfans, die mich umschwirrten wie Pferdebremsen, ihrerseits flankiert von Polizeieinheiten, die zu ihrer Eindämmung und Besänftigung Wochenendschichten einlegten. Osnas Bahnsteige waren schäbig, aber auf die uninspirierte Art. Ein Geruch von Verdammnis lag in der Luft, und das Feuer in den Augen der Menschen war erkaltet wie die Udon-Nudeln, die ich mir noch kurz vor der Abreise bei Jasmin in Neukölln geholt hatte. Osna, ein Ort wie aus einem Element of Crime-Song, so grauenvoll und trist, dass es schon wieder zum lachen ist – Osna, mein persönliches Vietnam.
Eingekeilt zwischen den Gepäckstücken des schriftstellerischen Nomadentums ertrug ich mein Schicksal, die Beine hochgelegt auf einen Sack voller Zweifel, die Udon-Nudeln im Schoß. Ich schlürfte sie achtsam und gewissenhaft, als wären sie heiß wie die Hölle, und hoffte so die 90 Minuten Wartezeit zu überbrücken, die mir Osna aufgrund eines „kurzfristigen Personalmangels“ beschert hatte.
Ich war jetzt ein Mann in Osna, und Männer in Osna trugen Bluejeans oder schwarze Röhrenhosen, dazu schwarze Windjacken, weiße Sneakers und Bauchtaschen. Abgesehen von den Sneakers konnte ich zwar mithalten, nur die Haare waren zu lang, die machten mich verdächtig. Verdächtig wie die zwei oder drei anderen Langhaarigen, die ich ausmachen konnte, doch waren das durchweg siebzehnjährige schlurchige Körperkläuse mit unsicheren Blicken, und es war vollkommen klar, dass die hier nicht den Ton angaben – und ohnehin würden sie alle früher oder später in Berlin landen, um Lehramt oder Informatik zu studieren.
In der Regionalbahn Richtung Bremen dann gute Unterhaltung: Ein Quartett junggebliebener Haudegen rekapitulierte unter lautstarkem Gelächter das Fußballspiel. Rolf war unzufrieden – wieder und wieder zählte er durch, aber am Ende landete er doch jedes Mal auf Platz vier der internen Tipp-Rangliste. Seinen heiligen Frust überspielte er mit der spannungsreichen Geschichte einer misslungenen Darmspiegelung – einer Routineuntersuchung eigentlich, bei der es einem Bekannten die Darminnenwände zerschunden hatte, weil der diensttuende Arzt nicht mit der Sonde umgehen konnte. „Aber wird schon“, schloss Rolf an Manne gerichtet, der seinen Termin am Montag mit gewisser Sorge erwartete.
Mir fiel ein, dass auch ich am Montag meinen ersten Termin an der Vechtaer Uni haben würde, und so fühlte ich mich Manne sehr verbunden, wenngleich der Gang zum Gastroenterologen natürlich ein anderer Schnack war als ein Empfang durch Universität und Presse.
Die Berufung zum AiR liegt nun eine Woche zurück. Seitdem bewege ich mich als Verfechter Vechtas und damit auch als offizieller Liebhaber des Oldenburger Münsterlandes durch die Welt, weshalb es mir jetzt schwerfällt Folgendes zu sagen: Der Blick auf die Kulturlandschaft, die während meiner Anfahrt jenseits der Fensterscheiben vorbeizog, bestätigte jedes Klischee. Auf den Weideflächen: schlanke Pferde. Auf moorigen Wiesen: Vögel mit langen Beinen. Hier und da eine Katze. Ansonsten kein einziges Tier zu sehen. Stattdessen am Ende einer jeden Sichtachse, die sich zwischen den Äckern, Feldern und verstreuten Wäldern auftat: die Hallen einer Tierfabrik. An den Dorfrändern: Speicher, Kuppeln, Hochregallager, prallgefüllt mit Kraftfutter, Antibiotika und Pestiziden oder glänzenden Agrarmaschinen, die den ganzen Spaß am Laufen hielten. Doch die unverkennbaren Silos, Hallen, Biogas- und Kläranlagen der Mastbetriebe befanden sich nicht versteckt und abgeschirmt in tiefen Kiefernwäldern, wie ich es vor allem aus dem Osten kannte. Stattdessen waren sie ein ganz offen zu Tage tretender Teil der Gegend, stolze Zentren prächtiger Hofensembles, wo Bauer und Tier noch Seite an Seite lebten, und alles war aus demselben Stein gebaut: die Häuser der Menschen und die Ställe der Tiere, die Mauern, die sie umfriedeten, die Schornsteine, Auffahrten, Treppen und Wege – alles klinkerte rot oder braun und schimmerte hübsch in der Abendsonne.
Denn eines muss man dem Norden lassen: Schönes Licht, das kann er! Es ist nicht so magenta-violett und ultra-fett wie das Sommerabendlicht Berlins mit seinen ausladenden Sonnenuntergangsspektakeln über den Dächern der Stadt, nicht so prall, warm und mediterran wie das Gepränge über den Weinhängen und Obstplantagen an den Bodenseeufern – sondern so ganz anders, so schlicht und ergreifend, also: eher etwas dünn und fahl. Aber das ist angenehm stimmungsvoll, im Ernst!
Ich jedenfalls feierte dieses Licht und freute mich über die langen Schatten, die es übers Flachland warf, über Heide, Moor und Geest. Der Zug fuhr in Vechta ein, und mein Blick wurde weich, als hätte ich mir einen Liter Melissengeist reingeknallert, und das war absolut nicht das Schlechteste nach der Reise. Am Anfang war alles Osna, doch dann wurde es Licht.
PS: Habe in Berlin mal eine Jungsclique aus Osna gekannt. Ein einziger blonder Haufen von schlurchigen Körperkläusen mit verkifften Blicken war das. Sie lehrten mich, dass man „Osna“ sagt für Osnabrück, und das ist alles, mehr weiß ich nicht von dieser Stadt. Sorry, Osna, es ist vermessen, aber wie du mir, so ich dir.