Auch Larissa Schleher, die im Jahr 2020 zum Thema „Vielfalt und Wandel – Europa in Vechta“ mit ihrer Schreibmaschine in Vechta war, hat zum 10-jährigen AiR-Jubiläum einen Gast-Blogbeitrag beigesteuert:
Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll, ohne pathetisch zu werden. Ich schreibe etwas von „vermissen“ und lösche es wieder. Zu viel Gefühl ist schließlich peinlich, oder? Man öffnet sich. Zeigt sich. Macht sich schutzlos.
Aber ist es nicht genau das, was die Menschen, die ich in Vechta interviewt habe, auch getan haben? Sich geöffnet, ihr Innerstes preisgegeben, ihre Geschichten, teils Lebensgeschichten, erzählt. Waren das nicht die berührendsten Interviews – in denen Menschen ihre Schutzlosigkeit preisgegeben haben? Mir zum Beispiel erzählt haben, wie sie sich in Deutschland durchgeschlagen mussten, als junge Frau aus dem Ausland, mit befristeten Arbeitsverträgen in der Fleischindustrie, ohne Verlängerung bei Bekanntwerden der Schwangerschaft und somit ohne Job. Vor meinem inneren Auge tauchen immer mehr Gesichter, Namen und Situationen auf. Ich vermisse Menschen, die ich kaum kenne und bin selbst erstaunt, wie sehr. Ich beschließe, die Emailadressen herauszusuchen und mich wieder einmal bei einigen zu melden.
Bei denen, die mich so herzlich aufgenommen haben. Mich zu sich nach Hause eingeladen haben. Mir vertraut haben. Ich beschließe, dass ich ‚peinlich‘ sein muss, pathetisch, um dem Ganzen gerecht zu werden. Ja. Wenn ich an Vechta denke, werde ich ein wenig traurig. Ein wenig melancholisch. Weil ich es vermisse. Die Weite, die Storchennester, die Backsteinhäuser, den Weiher, Pferdekoppeln, die Uni, die Stadt. Zeit zu haben für Ideen, für Gespräche, fürs Fotografieren, fürs Schreiben, Zeit zum Nachdenken.
Die Erinnerungen fühlen sich an wie ein anderes Leben. Und das ist das Schöne an Stadtschreiber*innen-Stellen, Residenzen, Projektaufenthalten – sie ermöglichen es, für eine gewisse Zeit in eine andere Haut zu schlüpfen, an einem anderen Ort zu wohnen, einer selbst gewählten Tätigkeit nachzugehen, neue Menschen und Plätze kennenzulernen, den Alltag hinter sich zu lassen, Gedanken zu spinnen und neue Ideen zu verwirklichen. Ein kreatives Spieleland.
Vechta liegt zwar von mir aus gesehen am anderen Ende von Deutschland, aber ich beschließe, irgendwann wieder hinzufahren, vielleicht zum nächsten Artist-Alumni-Treffen, um Alfred Büngen und seinen Geest-Verlag zu besuchen, Julian von Partnerschaft für Demokratie Vechta oder das tolle Team der Uni-Vechta. Und gleich tut das Vermissen schon weniger weh.
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Wer sich für meine Zeit in Vechta interessiert, kann die Interviews, die ich geführt habe, in meinem Buch nachlesen, begleitet von Kurzprosatexten und Fotografien. Erschienen beim Geest-Verlag unter dem Titel: Länder, das sind doch nur in Sand gezeichnete Linien.
100 Europäer – ein Interviewprojekt.