Zwischen Vechta und mir – das geht tief. Wer weiß, wohin die Liebe uns führt, doch für jetzt lebe ich ganz im Glück der Gegenwart. Ein schlafloses, prickelndes Dasein ist das, bin unfähig, mich zu konzentrieren, doch voller Zuneigung für die Welt und seine Wesen, mein Grinsen breiter als das von Dieter Bohlen: You‘re my heart, you‘re my soul. Und wenn mich Freundinnen und Freunde anrufen, geht es stets nur um die eine: Vechta, Vechta, Vechta, und das Herz schlägt mir bis zum Hals. Das ist mehr als deep talk, mehr als Freundschaft+, mehr als ein billiger one night stand nach zu viel Jacky Cola, ein Bund fürs Leben womöglich – oder ein gefährliches Verlangen, das mich zu ersticken droht. Die Zukunft wird es zeigen.
Nicht alles ist schön an Vechta, doch sag das einem Frischverliebten! Zugleich macht man sich Gedanken, was passieren muss, sollen die Gefühle auch von Dauer sein, und da lohnt sich der Blick ins soziologische Feld: Wie lieben die Menschen in Vechta? Wo suchen sie ihr Heil? Denn ist heute die Liebe nicht genau das: Religionsersatz, das Versprechen auf ein Paradies nicht im Jenseits sondern genau hier und jetzt auf Erden?
Entsprechend habe ich mich auf die Suche nach den „Wegen zu neuen Gemeinsamkeiten“ begeben, wie per Ausschreibung vom AiR erwartet. Ich entdeckte dabei zwei Hauptverkehrsstraßen, auf welchen die meisten Vechtaer*innen zielgenau und zügig miteinander in Verbindung geraten: Alkohol und Babys. Zwei Schnellstraßen, die sich immer mal wieder annähern oder parallel verlaufen, deren Hauptverkehrskreuz aber das sogenannte „Babypinkeln“ sein dürfte. Kommt ein Kind zur Welt, sind Nachbarschaft, Familie und Freund*innen zu einem Trinkgelage ins Haus der Eltern eingeladen, um auf die Geburt anzustoßen. Während sich Mutter und Neugeborenes noch im Krankenhaus erholen dürfen, stellen die Gäste mit dem Vater einen Storch aus Plastik auf und spannen am Haus eine Leine, worauf Windeln, Strampler und Babylätzchen hängen und besagen: Hier ward ein Kind geboren.
Und so ein Babypinkeln hat es in sich, das steht fest, ich durfte es dank meiner lieben Vermieter erleben. Bier und Schnaps wurde da kredenzt, zunächst, und später alles, was der kampferprobte Keller sonst noch hergab … Und dann kommt man ins Gespräch, man wächst zusammen, und jeder und jede über sich selbst hinaus. Gemeinschaft durch Gemeinsamkeit. Das Wohl des Frischgeborenen ist den Anwesenden ein echtes Anliegen, darauf stößt man gerne an, und trinkfest ist man eh im Oldenburger Land. Die Blicke ins Glas werden tiefer – und mit ihnen die Einblicke in private Peinlichkeiten, Schwächen oder innere Brüche. Da springt das Nähkästchen bald sperrangelweit auf, und plötzlich wird es spannend, weil menschlich und verletzlich, aber derlei hat hier leider keinen Platz, es ist das alte Lied: „In Vechta kennt jeder jeden“, und auch die Narrenfreiheit eines AiR endet dort, wo der potenzielle Schlamassel der Andern beginnt … Daher Soziologie statt Individualpsychologie – ein Interessenskonflikt, der sich erst in der Fiktion lösen lässt und vorerst nur entschärft werden kann, indem ich wenigstens mich selbst ein bisschen bloßstelle.
Aber auch da gibt es nicht so vieles zu berichten. Habe weder in den Garten der Gastgeber gekotzt, noch eine der anwesenden Frauen belästigt. Zumal diese ausnahmslos alle mit Partnern gekommen waren, oft mit Kindern. Sie standen oder saßen stets Seite an Seite, und ich hatte nicht den Eindruck, bei einer dieser monolithischen Paareinheiten mit meinen Theorien über offene Beziehungen auf intimes Interesse zu stoßen. Blieben noch die älteren Ladys, die verwitweten. Da hatte ich einige coole Unterhaltungen, die waren lässig drauf, hatten alles erlebt und freuten sich über meinen Nagellack. Zwei von ihnen wollten sich meine Wohnung anschauen, na sichi, sagte ich, sehr gern, und führte sie die Stockwerke der renovierten Mühle hinauf und hinunter. War ja alles kein Problem, die Wege sind nicht weit in Vechta, und das Babypinkeln fand direkt auf der anderen Seite des Gebäudes statt. Mit ihren tiefen Stimmen und den glimmenden Zigaretten zwischen den Fingern erinnerten die beiden mich an die Schwestern von Marge Simpson, obwohl der Vergleich hinkt, weil meine Begleiterinnen definitiv sehr viel angenehmer waren als die zwei grausigen Zeichentrickfiguren mit ihren gelben Gesichtern und blass violetten Afros. Dem frischgebackenen Papa gefiel es aus irgendeinem Grund enorm, mich damit aufzuziehen, dass ich immerzu mit den älteren Damen herumschäkerte. Aber was hatte er erwartet, wenn er keine Single-Frauen unter sechzig einlud?
Im Verlauf des Abends hielt ich mich dann an die Männer meines Alters, hauptsächlich Freunde und Kollegen, einige Lehrer, ein Architekt, ein Biopilzzüchter, der mir als „der Veganer“ vorgestellt wurde. Sie alle waren ohne ihre Familien angereist, aber durch die Bank weg verheiratet. Es wurde diskutiert über Vechtas Vorzüge, über die Anonymität in den Städten und die Vorteile des Landlebens, die sich während Corona gezeigt hatten. Darüber hinaus spielte die Pandemie keine Rolle, Freiberufler war hier fast niemand, die Angestellten gesichert durch Kurzarbeit.
Schon in Berlin fühle ich mich mit meinem Lebenskonzept – oder dessen Konzeptlosigkeit – hin und wieder etwas neben der Spur, aber hier war ich ein astreiner Exot. Nicht verwunderlich, dass die einzigen Single-Frauen in meinem Alter, die ich in vier Wochen Vechta getroffen habe, eine Künstlerin aus Hamburg und eine FDP-Europapolitikerin aus Brüssel waren, beide auf einem mehr oder weniger langen Besuch in der hiesigen Heimat, beide vergleichsweise freakig, wenn man so will, aber mit spannenden Geschichten im Gepäck.
Die Studentinnen in der Banane waren wiederum zu jung. Und überhaupt hatte ich den Eindruck, ihnen irgendwie Angst einzujagen, wie ein ralliger Kater, der es auf süße Kirchenmäuse abgesehen hat, zu betrunken und schlecht gekleidet, kein Heiratsmaterial, nur Creep (s.o.).
Aber zu meinem Glück gibt es Bremen! Dort sind die Öko-Mädchen mit den Dreads und Sidecuts unterwegs, die Partyvögel im Zweitstudium, die Hippies mit Reisebus, die in kalten Nächten meine Schlabberpullifantasie anregen, halleluja, Dating-Apps, ich preise euch. Denn ganz falsch ist es nicht, was jemand kürzlich im Vertrauen zu mir sagte: „Der Friedensnobelpreis sollte an Tinder gehen.“ Er hatte seine Perle dort kennengelernt, das familiäre Umfeld in Vechta sollte davon aber besser nichts erfahren.
Am Ende, nach vielen Fläschchen Pfefferminzlikör und Kräuterschnaps, nach Bier und einem sanften Glas Rum hatte sich die Babypinkelparty langsam ausgedünnt, und der Dancefloor wurde eröffnet. Es tanzten ein Graf, zwei Lehrer, die – verheiratete – Schwester des Gastgebers und ich zu Marius Müller-Westernhagen: Freiheit, Sexy, Willenlos, der Abend war perfekt.
PS: Dieter Bohlen wurde in Berne in der Wesermarsch geboren, nicht weit von hier. War neulich da gewesen. Ganz hübsch.