„Die Häuser in der Mühlenstraße waren alt und klein, mit Fachwerk und aus Lehm gebaut. Nicht aus Stein, wie die hohen weißen Häuser der wohlhabenden Kaufleute, der Lehrer und der hohen Beamten. Und auch nicht in eigenen Eichen-und Kastanienwäldchen gelegen, wie die Höfe der Bauern am Rande der Stadt. Die Menschen von der Mühlenstraße waren arm. Oft hatten die Männer keine Arbeit und in den Familien mussten viele Münder gestopft werden. Auch einen Namen hatte man den Bewohnern der Mühlenstraße gegeben. Im Winter bezog die Familie des Karussellbesitzers Müller hier ihr Winterquartier, und da man damals alle Jahrmarktbezieher als „Zigeuner“ titulierte, beschimpfte man die Leute von der Mühlenstraße ebenfalls als Zigeuner. „Zigeuner“ haben die Kinder auch Piele oft nachgerufen,als er noch ganz klein war. Vielleicht hat er sich irgendwann vorgenommen,dass ihn niemand mehr so nennen dürfte? Und es wagte auch niemand, ihn so zu nennen. Die Mühlenstraße liegt an der alten Stadtgrenze, noch mitten in der Stadt. Hinter ihren Häuserreihen verläuft der Moorbach, im Sommer ein kleines Rinnsal, das aber im Frühjahr nach der Schneeschmelze, zu einem Fluß anschwillt und die Wiesen am oberen Ende der Mühlstraße überschwemmt. Vor den Häusern sitzen auf weiß gestrichenen Bänken die alten Frauen, dösen in der Sommersonne, schälen Kartoffeln oder passen auf die kleinen Kinder auf. Die Frauen arbeiten in den Küchen, die zur Straße liegen und rufen sich aus den geöffneten Fenstern zu. Sie treffen sich auf der Straße, wenn der Milchmann mit seinem Pferdewagen am oberen Ende der Mühlenstraße die Glocke schlägt,dort, wo der Stadtgraben vom Moorbach abzweigt und und die alte Wassermühle liegt. An die Männer in der Mühlenstraße erinnere ich mich kaum. Im Winter , wenn sie keine Arbeit hatten, saßen sie wohl immer in den Gasthäusern oder lagen in den Betten und schliefen ihren Rausch aus. Im Sommer gingen sie früh am Morgen in das Moor, wo sie in der brennenden Sonne oder im strömenden Gewitterregen Torf stachen für die großen Torffabriken.
So kenne ich nur ihre Stimmen und ihre roten Gesichter, wenn sie an Sonntagabenden, nach reichlichem Genuß von Schnaps die kleinen Jungen anfeuerten,die sich auf dem Pflaster der Straße rauften. Alte Männer gab es in der Mühlenstraße nicht. Die harte Arbeit und der viele Schnaps in der langen Zeit der Winterarbeitslosigkeit ließ die Männer wohl nicht alt werden. Mit den Mädchen ist es nicht anders. Ich kann mich an kein Gesicht mehr erinnern. Und auch nicht an ihre Stimmen oder ihre Spiele. Gab es überhaupt Mädchen in der Mühlenstraße? Es wird sie gegeben haben. Aber einmal gingen sie nicht mit uns Jungen in dieselbe Schule- es gab noch für Mädchen und Jungen getrennte Schulen-, und zum anderen verdrängt Piele Mucker jede Erinnerung an sie. Auch die anderen Jungen der Straße verschwinden hinter ihm. Sie konnten sich mit ihm nicht messen und da ich mit meiner Furcht vor ihm vollkommen ausgefüllt war, habe ich auch sie nicht wahrgenommen. So sehe ich heute noch die Frauen um den Milchwagen stehen, und Piele Mucker kommt die Straße hoch. Er ist allein und hat für alles andere nichts mehr übrig als hämische Blicke. Dann steigt mir der Geruch der Mühlenstraße in die Nase und ich höre Pieles Schritte auf dem Pflaster, und plötzlich fällt mir die ganze Geschichte wieder ein.“
Hermann Josef Pölking, „Piele Mucker und die Dinger“, Elefanten Press Verlag, West Berlin,1981