Promenadologie

Gestern verging mir bei fünf Grad und Regen recht schnell die Lust am Lustwandeln und ich setzte mich in ein Café. Ich wählte das falsche: Eine Franchise-Filiale, die dünne Plörre ausschenkte und neben mir lümmelten sich zwei Bengel in den Sitzen, krakeelten herum und spielten sich Musik auf ihren unsinnigen Smartphones vor. Ein Pärchen schwieg sich aggressiv an. Im Schatten meiner Unlust wuchs ein tüchtiger Ärger heran und mit ihm kam ein Zweifel; beim Blick auf die graue Straße fragte ich mich: Kann man in Vechta überhaupt flanieren? Geht das nicht nur in der Großstadt?

Dass der Begriff des Flaneurs vielleicht ein problematischer ist, schwante mir zum ersten Mal, als die Lokalzeitung vor einigen Wochen vom „Vechta-Flaneur“ schrieb und damit mich meinte. Es schien nicht so recht zu Vechta zu passen, dieser Dreißigtausenderstadt mit ihren Schweinemastanlagen. Hessel und Benjamin flanierten in Berlin und Paris, ich in Vechta. Das klang nicht frei von Hybris, die schnell ridikül wirkt, wenn ihr Aktionsfeld nur klein genug ist.

Zum Glück gab es WLAN zum Kaffee und ich klickte mich durch Artikel übers Flanieren, Spazieren, Promenieren und den abendlichen Corso. Ich erfuhr, dass es in Kassel eine kulturwissenschaftlichen Forschungsstelle gibt, die sich mit begrifflichen Fragen zum Flanieren beschäftigt. In ihren Texten fand ich meine Befürchtungen bestätigt: Die Spaziergangswissenschaft hat festgestellt, dass allein die Großstadt der Schauplatz des Flaneurs ist. Was er braucht: Eine Menge, in der er ein Bad nehmen kann, Dynamik, Geschwindigkeit und Hast um ihn herum, vor allem aber die eigene Freisetzung vom Arbeitszwang. Er ist ein Mann des kulturellen Überbaus, der sich um die ökonomische Basis nicht scheren muss. Dieses Privileg hatten in der Moderne eher ein paar Städter als die Menschen vom Land. Aber das war nicht immer so: Am Anfang, noch vor dem bürgerlichen Flaneur, machte sich der aristokratische Lustwandler auf den Weg. Er mied die Städte und zog durch Parks, Wälder und Dörfer.

Was die gesamte Promenadologie aber bislang wohl noch nicht bedacht hat: Nun, da der Unterschied zwischen Stadt und Land zu verschwinden scheint, das Geld und die Hast auch die Provinz erfasst haben, weil alles in der allgemeinen Metropole aufgeht, mündet die Geschichte in ihren Ursprung und die Flanerie wird auch auf dem Land wieder möglich. Also muss das auch in Vechta gehen.

Ich bin beruhigt und könnte jetzt aufhören zu lesen, aber die Wissenschaft vom Spaziergang hat mich gepackt, ich bestelle noch einen dünnen Kaffee und lese weiter. An einigen Stellen wird Ideologiekritik geübt: Die Freiheit des Flaneurs von der materiellen Basis ist nur eine scheinbare. Gerade weil er sich nicht darum kümmert, verfällt er ihr. Benjamin erkannte darin einen „durch die Struktur des Warenmarktes erzeugten Rausch“. Was an den Flaneur herangetragen wird, schreibt er auf. Aber daran ist nichts Zufälliges oder gar Unschuldiges. In einer Welt, die alles mit Gleichheit schlägt (darum auch die Einheit von Stadt und Land), gerät seine vermeintlich vorurteilsfreie Beobachtung zur „Einfühlung in die Warenseele“.

Ich verlasse die Café-Filiale. Es hat aufgehört zu regnen, das Spazieren geht nun besser und auf dem Nachhauseweg denke ich, dass es doch nicht weniger als eine Münchhausensche Aktion ist, über deren Möglichkeit die Promenadologen zu grübeln haben. Denn die Gretchenfrage des gelungenen Flanierens lautet heute wohl: Wie kann man beobachten und archivieren, was passiert auf den Straßen und in den Cafés und sich dabei die Warenförmigkeit der eigenen Beobachtungen, des ganzen Bewusstseins gar, zu Bewusstsein rufen? Nicht nur im Inhalt, der ist vielleicht schnell ausgemacht, sondern vor allem auch im Stil (der sich etwa in einer flapsigen Popschreibe äußert) – ohne dabei einem blasierten Ästhetizismus, einer Predigt der schönen Form anheimzufallen.

Denn nur schwer erträglich wäre: Dass draußen Bomben platzen und der Flaneur bloß über den passenden Stil dazu sinniert.