Was Verd als erstes auffällt, ist die Ruhe. Sobald wir am Empfang vorbei sind, durch die erste schwere Eingangstür und durch die zweite schwere Eingangstür, sind wir drin in der Stille. Geräusche dringen vom Flur zu uns durch und werden ebenso schnell von den dicken Mauern geschluckt. Ein ehemaliges Kloster ist das Frauengefängnis. Passend, findet Verd.
– Die JVA ist für die meisten Frauen ein Schutzraum, erklärt uns die Leiterin mit dem großen Schlüsselbund.
– In Comics haben die im Gefängnis auch immer so einen Schlüsselbund, flüstert mir Verd zu, traut sich aber noch nicht zu lauteren Kommentaren.
– In Deutschland sind nur 5% aller Inhaftierten Frauen. Viele von ihnen sind selbst Opfer von Gewalt und sind so zu Straftätern geworden. Viele sind drogenabhängig. Das Gefängnis ist zwar eine Strafmaßnahme, aber sie bekommen so auch eine Auszeit, erklärt sie weiter.
Wir werden durch einen Teil der Räume geführt. Verd bleibt dicht bei mir. Bei jeder Tür rennt es schnell hindurch, in der Angst sich hier zu verlaufen und vergessen zu werden.
Wir lernen von Einzelhaft, Gemeinschaftsunterbringung und Offenem Vollzug. Von Kunstprojekten und dem Umbau. Wir kommen am Fenster zum Hof vorbei. Verd will nach oben gehoben werden, um schauen zu können. Im Hof dreht eine junge Frau Runden. Eine, noch eine, noch eine.
– Sie macht fast solche Runden wie ein Verd, flüstert Verd, das sich immer noch nicht sicher ist, ob seine Kommentare an diesem Ort angebracht sind. Weiter dürfen wir nicht, die Unterkünfte sind tabu. Wir werden in den Konferenzraum geführt.
Dort treffen wir zwei Inhaftierte. Die beiden lächeln viel. Sie wohnen zusammen in einer Gemeinschaftsunterbringung. Hier wohnen die Ordentlichen. Die vom Spießerflur, werden sie von den anderen genannt.
– Die Inhaftierten sind hier wohl nicht alle so wie ihr, oder?, fragt Verd, immer noch leise.
– Vielen ist alles egal, erzählt eine der Frauen. Die machen Stress, schreien rum, oder drohen.
Hier sind eben alle unter einem Dach. Man ist zusammen mit Menschen, mit denen man draußen nie reden würde. Im guten wie im schlechten Sinne. Ich musste hier als erstes das Nein-Sagen lernen.
– Was ist der Unterschied zwischen euch und den anderen?, will Verd wissen.
– Der Unterschied ist: Viele der anderen haben keine Perspektive. Die wissen nicht wie es weitergehen kann. Wir beide haben ein Zuhause. Das ist meins, und das kann mir keiner nehmen. Das bleibt.
– Und was macht ihr hier, wenn ihr nicht im Hof Runden dreht?, fragt Verd neugierig.
Wir erfahren, dass im Gefängnis Arbeitspflicht herrscht. Die eine der Frauen arbeitet als Näherin, die andere in der Küche. Sie hat hier ihre Ausbildung gemacht. Wenn sie hier rauskommt, will sie allerdings am liebsten als Bestatterin arbeiten.
– Warum denn das?, fragt Verd erstaunt.
– Wegen der Ruhe!, antwortet sie und lächelt.
Das versteht Verd sofort. So ruhig, wie die Mauern hier.
Die beiden erzählen von ihrer Freizeit. Von Gesprächen mit den anderen. Von Playstation und Serien. Von Zeitungen um zu wissen, was Zuhause passiert. Und Gedankenreisen. Nicht viele haben diese Gabe: Sich fort träumen.
– Manchmal weiß ich nicht mehr, welcher Tag heute ist, erzählt die eine. Der ewig gleiche Rhythmus: aufstehen, Arbeit, Freistunde im Hof. Abend. Ich bin zu einem Vampir geworden: Ich sauge Freude auf. Wenn ich telefoniere. Wenn ich Besuch kriege. Wenn ich mal raus darf, zusammen mit den Betreuern, um zum Optiker zu gehen. Die Erzählungen der anderen. Als ich zwei Tage nach Hause durfte. Ich sauge die Freude auf und das ist die Grundlage meiner Träume. Der Rest verschwimmt.
– Ich weiß immer welcher Tag heute ist, sagt die zweite Inhaftierte. Denn ich richte in der Küche das Tagesmenü!
– Und heute?, fragt Verd.
– An heute werden wir uns erinnern, sagen die beiden lachend: Der Tag, an dem uns ein Pferd besuchen kam.
Zurück durch den Flur. Warten, bis die Türen geöffnet werden. Raus. Die Tür fällt ins Schloss. Der Lärm der Welt kommt zurück zu uns. Draußen hält Verd eine Weile inne. Dann galoppiert es los, immer geradeaus. So weit es seine kleinen Hufe tragen.