Vechtas größte Zeitung erreicht eine Haushaltsabdeckung von 65 Prozent, während in den meisten Großstädten nur noch ein Drittel der Haushalte eine Tageszeitung bezieht – natürlich ganz verschiedene. Was dort steht, ist nicht sofort Stadtthema, in Vechta hingegen schon.
Die Öffentlichkeit zerfällt, jeder sucht sich seinen Nische und liest, was er ohnehin schon immer geahnt hat und nur noch ein bisschen genauer wissen will. Briefmarkenfreunde, Anonyme Alkoholiker, Rugby-Fans, Neo-Marxisten oder Geistesaristokraten bleiben unter sich und sehen keinen Grund, ihre verriegelten Kommunikationsräume zu verlassen, um zu schauen, was nebenan passiert. Selektive Informationsbeschaffung ist heute einfacher denn je.
Es ist eine widersprüchliche Bewegung, die die nachmoderne Welt vollzieht: Sie schlägt alles mit Gleichheit, zerfällt aber zugleich in „diffuse barbarische Vielheit, das Gegenteil jener versöhnten Vielfalt, die allein ein menschenwürdiger Zustand wäre“ (Adorno). Versöhnung wird unmöglich, wenn die Probleme aus der Lebenswelt nicht an die Öffentlichkeit gelangen, um dort zum Politikum zu werden. Der Verfall beschleunigt sich, wo boulevardeske Belanglosigkeiten reales Leid verdecken.
Tragisch ist, dass die digitale Wendung der Agora ein neues republikanisches Zeitalter einläuten könnte, mit bislang ungeahnten Beteiligungsmöglichkeiten. Aber die Menschen suchen sich einsame Ecken am Rande des großen Platzes, dort stehen sie in kleinen Grüppchen und stecken die Köpfe zusammen.
Hier kommt die Zeitung ins Spiel, denn sie könnte die Isolation der Gruppen durchbrechen, sie müsste bündeln, was sonst bloß nebeneinander herliefe und unverbunden bliebe. Dann entstünde Öffentlichkeit, ohne die demokratische Institutionen zu Fassaden verkommen. Im 19. Jahrhundert sorgte die Massenpresse dafür, dass zur gleichen Zeit im ganzen Land über ein Thema diskutiert wurde. Schauplatz des bürgerlichen Stücks war damals die Stadt.
Heute aber scheint sich der Verfall zuerst in den Städten bemerkbar zu machen. Öffentlichkeit wird zunehmend nur noch simuliert – etwa wenn das grundlose Herumlungern auf Plätzen und Bänken, erst recht das laute, verdächtig geworden und im Grunde unerwünscht ist. Oder eben, wenn die meinungsbildende Kraft der Presse schwindet.
Schaffen kleine Städte, die sich auf ein Medium geeinigt haben, das alle lesen, nicht mittlerweile mehr Öffentlichkeit als große? Ist die Moderne heute in kleineren politischen Einheiten besser aufgehoben? Vielleicht sind auch hier wieder die Städte dem Land einen Schritt voraus – einen Schritt weg vom bürgerlichen Zeitalter und hinein in das, was danach kommt und nicht besser sein wird. Die Zeitungsbindung auf dem Land ist dann vielleicht das Werk eines ehrenwerten Katechons, eines Aufhalters, der sich gegen den Weltlauf zum Schlechteren stemmt.