Die Reise,und auch der Spaziergang, können zweierlei Bedeutung haben: Entweder handelt es sich um einen Weg zum Ziel, wobei das Ziel die überragende Wichtigkeit einnimmt. Oder aber es wird gereist um des Genusses oder Information der Reise willen. Jede Reise hat etwas von beidem: Erscheint zunächst die Pilgerfahrt als ausschließlich am Ziel orientiert,so ist gerade sie es,die als Reise ein starkes Erlebnis verschafft, und bei welcher auch fromme Zwischenstationen eingerichtet werden. Moderne Verkehrsmittel neigen dazu, die Reise unbedeutend und abstrakt werden zu lassen und allein das Ziel in den Vordergrund zu stellen. Eine abstrakte, rein zielorientierte Reise bietet die Untergrundbahn; ihr verwandt ist die Schnellstrecke. Der Flug,den sich die Pioniere vornehmlich als Fahrt, weniger als zielgerichtetes Verkehrsmittel vorgestellt hatten, ist heute ebenfalls ein hochgradig abstraktes Mittel, rasch zum Ziel zu kommen. Spaziergangstheoretisch hängt das auch damit zusammen, dass der Blick aus großen Höhen zur Erde viel weniger interessant ist, als man sich das wohl vorgestellt hatte.
(…) Am Anfang stehen die Fußreise oder die Reise zu Pferd oder mit dem Pferdewagen, wie wir sie nur noch aus der Memoirenliteratur kennen. Mit ihnen ist eine ganze Welt verlorengegangen, die Welt der Kutscher und der Herbergen, eine Welt der Begegnung zwischen Nationen, Ständen und Rängen, denn schließlich war jeder, vom Fürsten bis zum Handwerksburschen, auf den Besuch der am Wege liegenden Herbergen angewiesen. Berührungen mit der Örtlichkeit waren unerlässlich; es mussten unterwegs die Essensvoräte, Heu und Hafer für das Pferd bei Bauern, Händlern oder Wirten angekauft werden. In Bezug auf das Landschaftserlebnis folgt die traditionelle Reise dem Modell der Perlenschnur. Die Wahrnehmung registriert die typischen Orte und Qualitäten, filtriert das Nebensächliche aus und vollbringt eben jene spaziergangsmäßige Integrationsleistung, die wir eingangs beschrieben haben. Aus der Fülle der auf das Auge und die anderen Sinnesorgane eingeströmten Informationen werden diejenigen ausgewählt, die im wesentlichen den Charakter des Wiedererkennens haben, oder unter ein zuvor bekanntes Wissen subsumiert werden können, und diese werden dann im Gedächtnis behalten und in Erzählungen und Niederschriften festgehalten. Die Integration besteht darin, dass kurzfristig aufeinander folgende heterogene Eindrücke verarbeitet werden zu eben jenem Landschaftsbild, das dann als typisch für die durchquerte Gegend gilt.
(…) Wer im Auto losfährt, der braucht sich sein Ziel noch nicht überlegt zu haben; er kann losfahren, durch das Fenster schauen, die gesehenen Punkte im Sinne des Spaziergängers zu Landschaften integrieren, er kann auch die Richtung wechseln, wenn er mit den gesehenen Eindrücken nicht zufrieden ist, oder parkieren und verweilen, wenn ihm ein Punkt der Perlenkette besonders bemerkenswert erscheint. In mehrfacher Hinsicht ist aber die Situation des alten Spaziergangs nicht mehr hergestellt. Zum einen ist der Radius der Erreichbarkeit vergrößert. Wenn bei einem Spaziergang zu Fuß, mit der Durchquerung von Dorf,Fluß,Tal, Hügel usw. die Eigenheiten einer begrenzten Landschaft im Kopf integriert und damit wahrgenommen werden können, so werden mit dem Wagen sehr viel größere Landschaftseinheiten befahren. Berichtet der Spaziergänger von den Eigenheiten des Habichtswaldes, so der Autofahrer von der Toskana,vom Burgund, von der Provence, die er soeben über Pfingsten durchfahren hat. Der Anspruch an die Integration ist also viel größer geworden, viel heterogenere Eindrücke müssen zu viel abstrakteren Ideallandschaften integriert werden. (…)
Luzius Burckhardt / Warum ist Landschaft schön